06Die „neue Lustlosigkeit“ in deutschen Schlafzimmern geht hin bis zur kompletten Asexualität
Sex sells, Sex ist käuflich, stets verfügbar und Sex ist immer und überall! Alles ist inzwischen erlaubt. Viele noch vor kurzer Zeit verschämt, verschwiegene Spielarten sexueller Vorlieben wie SM, Bondage, Swingen oder irrationale Sexspielzeuge sind inzwischen gesellschaftlich anerkannt. Das Einzige, was in unserem Land der grenzenlosen Lust wirklich verboten scheint, ist, einfach keine Lust zu haben.
Dabei ist genau das ein wachsendes Problem in unserer Gesellschaft: Beruflicher und wirtschaftlicher Druck macht gerade Männer müde, aber auch Frauen lustlos.
Nach Einschätzung von Experten sinkt die sexuelle Aktivität der deutschen Männer seit den 70er Jahren stetig und erschreckende Zahlen machen die Runde: Hatten 18- bis 30-Jährige vor 30 Jahren noch 22- bis 28-mal im Monat Sex, sind es heute vier bis zehn mal, 31- bis 40-Jährigen kommen auf müde drei bis sechs mal monatlich und 41- bis 50-Jährige auf zwei bis drei mal. Diese Ergebnisse einer Studie der Hamburger Uniklinik Eppendorf von 2007/8 unter der Leitung von Prof. Dr. F. Sommer rüttelte dieses Jahr die Nation auf!
Laut einer weiteren Studie des Institutes für Psychologie der Uni Göttingen (2007) fand die Hälfte der 51.000 Teilnehmer andererseits, dass Sex in ihrer Partnerschaft zu kurz kommt! Gut ein Fünftel aller Trennungen passieren sogar, wegen mangelndem oder fehlendem Sex (Quelle: ElitePartner). Zehn Prozent der deutschen Männer haben laut der Zeitschrift “Gehirn & Geist” aber trotzdem wenig Interesse an Sex, nach AVEN (Selbsthilfegruppe Asexueller) ein bis drei Prozent der Männer gar keines.
Symptomatisch für den neuen Lustlos-Trend ist die Gründung eben jener Gruppe, abgekürzt AVEN (Asexual Visibility and Education Network), ein weltweit verbreitetes Forum für Asexuelle, also für Menschen, die gar kein Bedürfnis nach Sex haben. Dabei verstehen sich AVEN-Anhänger nicht als krank oder abnormal, auch nicht als Opfer verdrängter, nicht ausgelebter sexueller Vorlieben, sondern einfach als asexuell. „Im Gegensatz zum Zölibat, welches eine bewusste Entscheidung voraussetzt, ist Asexualität mit einer sexuellen Orientierung vergleichbar. Einige Asexuelle leben in nicht-sexuellen Beziehungen, die denen mit Sex recht ähnlich sind“, so ein Anhänger der Gruppe
Dazu das Interview mit dem Pressesprecher der AVEN-Netzwerker in Deutschland, Dirk Walter:
„Wenn der Mann gar keine Lust hat, ist er vielleicht asexuell?“
AVEN versteht unter Asexualität das Nicht-verspüren von sexueller Anziehung zu anderen Menschen. Asexuelle haben kein Interesse daran, mit anderen Menschen sexuell zu werden, wobei die Grenzen zwischen Zärtlichkeiten und Sex sehr individuell gesetzt werden. Dennoch sind viele Asexuelle daran interessiert, romantische (nicht-sexuelle) Beziehungen einzugehen und sind fähig, Nähe und Liebe auch ohne Sex zu kommunizieren. Im Unterschied zu einer sexuellen Lustlosigkeit haben Asexuelle ohne Sex keinen „Mangel“ und leiden auch nicht an fehlender Befriedigung.
Es gibt viele Gründe, die zu zeitweiser oder anhaltender sexueller Lustlosigkeit führen können wie Zeitmangel, fehlende Spontanität, Stress, Sorgen, traumatische Erfahrungen, Medikamente, einige Krankheiten wie Depressionen usw. In diesem Fall raten wir dazu, die Ursache zu klären und zu bekämpfen, wenn nötig auch mit Hilfe eines Experten.
„Wieviel Prozent der Asexuellen sind Männer?“
Unsere Mitglieder, die sich selbst als asexuell identifizieren, setzen sich zu etwa 2/3 aus Frauen und 1/3 aus Männern zusammen. Das zeigt aber eigentlich nur, dass es in der Überzahl Frauen sind, die das Gespräch suchen, während Männer sich etwas schwerer damit tun, sich selbst ihre Asexualität ein zu gestehen. Das liegt nicht zuletzt an der gesellschaftlichen Vorstellung, ein Mann müsse in der Beziehung – also auch sexuell – den aktiven, fordernden Part übernehmen um „ein Mann“ zu sein. Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass Asexualität unter den Geschlechtern gleich verteilt ist: Je nach Umfrage bzw. Schätzung beträgt der Anteil der Asexuellen 1 bis 3% der Bevölkerung. Für Deutschland also etwa 0,8 bis 2,4 Millionen Menschen. Das deutsche Forum von AVEN umfasst derzeit etwa 3600 Mitglieder von denen sich etwas über 1500 als asexuell bekennen.
„Sind es in den letzten Jahren mehr geworden oder sind sie nur ehrlicher?“
Asexualität ist keine Modeerscheinung, sondern eine natürliche sexuelle Orientierung. Entweder ist man asexuell – oder eben nicht. Über die Frage, ob es heute einfacher ist, sich als asexuell zu outen kann man streiten: Die Gesellschaft ist sexuell toleranter geworden, heute ist fast jede Form sexueller Betätigung zwischen einvernehmlichen Partnern erlaubt – außer eben“keine Lust“. Für viele Asexuelle ist dieses „letzte Tabu“ eher ein Grund, nicht öffentlich, zu ihrer Asexualität zu stehen. Zum Glück kann man heute im Internet auch Präsenz zeigen und sich mit anderen austauschen, ohne gleich sein Gesicht zeigen zu müssen.
„Wie kann man als Partner eines Asexuellen damit umgehen?“
Das Gespräch über seine Sexualität ist meistens eine große Herausforderung, eben weil es so persönlich und mit so vielen Gefühlen verbunden ist. Es ist wichtig, sowohl die eigenen Bedürfnisse, als auch die Bedürfnisse des Partners ernst zu nehmen und sich nicht für Wünsche / Nichtwünsche zu schämen. Gerade asexuelle Männer sehen ihre Asexualität oft als“unnatürlich“ und leben im Glauben, der Einzige und „nicht ganz Mann“ zu sein. Aufgrund dieser falschen Minderwertigkeitsgefühle, sowie Gefühlen von Erklärungs- und Hilflosigkeit, verweigern sie oft lange das Gespräch – neben Geduld helfen hierbei vor allem auch, die Erfahrungen und Berichte anderer Asexueller das Schweigen zu durchbrechen und das „So-sein“ zu akzeptieren. Es ist hilfreich, sich immer wieder zu versichern, dass Liebe – und nicht Sex – das Wichtigste ist. Ob ein Kompromiss gefunden werden kann, hängt ganz von den jeweiligen Personen ab: Es gibt sowohl Sexuelle, die ganz gut ohne Sex zurecht kommen, als auch Asexuelle, die nichts dagegen haben, regelmäßig oder gelegentlich Sex zu haben. Andere Asexuelle können lernen, welche Situationen für sie angenehmer sind und welche die Abneigung verstärken.
Einander lieben bedeutet, die Schwierigkeiten des Lebens mit Verständnis gemeinsam zu bewältigen, egal wie schwer der Prozess ist oder wie unperfekt das Endprodukt.
Manchmal stellt sich aber auch heraus, dass ein Kompromiss einfach nicht möglich ist – in diesem Fall ist eine Trennung das Vernünftigste.
Auf keinen Fall sollte eine Seite versuchen den Partner zu ändern oder „umzuerziehen“.
Redaktion: Kati Hofacker
Bilder: Fotolia.de und pixabay.com
Thomas says
Hallo zusammen, ich bin seit fast 13 Jahren verheiratet. Im Laufe der Zeit hat sich meine Frau, auch bedingt durch eine Krankheit, sexuell immer mehr zurückgezogen. Es fing an mit der Geburt unseres Sohnes vor 12 Jahren und mittlerweile glaubt meine Frau asexuell zu sein. Wir sprechen oft über meine sexuellen Bedürfnisse, finden aber keinen Weg, um Bewegung in die Situation zu bekommen. Gibt es vielleicht eine Selbsthilfegruppe für Partner von asexuellen Menschen? Ich würde mich über Infos freuen. Mit den besten Grüßen, Thomas