Deutschland überschwemmt eine Operationsepidemie. Egal, ob Rücken, Knie, Kaiserschnitt oder Herzschrittmacher. Schwerwiegende Operationen werden immer notwendiger. Jedenfalls, wenn es nach den Zahlen der bundesweiten Krankenhäusern geht. Denen zufolge leiden immer mehr Bundesbürger unter ernsten gesundheitlichen Beschwerden, die ausschließlich durch eine angeblich notwendige Operation behoben werden können. In vielen Fällen reicht nicht einmal eine Operation aus. Gleich mehrere gefährliche Operationen sind nötig, um die Patienten wieder gesund zu machen. In den Kliniken Osthessens sind besonders viele Rückenoperationen zu verzeichnen. In den Kliniken im Nordosten Deutschlands werden doppelt soviel Herzschrittmacher eingesetzt wie im Rest des Landes. Und die Bayern müssen anscheinend unter extremen Knieproblemen leiden. Wie sonst lässt es sich erklären, dass hier in den Kliniken wesentlich häufiger als im bundesweiten Durchschnitt Kniegelenkprothesen eingesetzt werden? Doch wie kommt es, dass in verschiedenen Regionen Deutschland überdurchschnittlich viele spezifische Operationen vorgenommen werden? Und ist jede Operation tatsächlich notwendig? Es entsteht der Verdacht, dass diese Operationsepidemie mehr zum Profit der Klinik und des überweisenden Arztes beiträgt als zur Genesung des Patienten…
Inhalt
Gewinnbringende Operationen durch Konkurrenzkampf der Kliniken
Mehr Gewinn für niedergelassene Ärzte
Klinik und Arzt gewinnen durch den Kaiserschnitt
Der vom Arzt genötigte Patient
Der Kooperationsvertrag zwischen Klinik und Arzt
Trickreiche Mehrfachoperationen
Kontrolle von Klinik und Arzt beinahe unmöglich
„Welche OP oder welchen Eingriff man in Deutschland bekommt, hängt oft davon ab, wo man wohnt, nicht was man hat!“ Dieser Satz ist Motto bei den Recherchen, die die Reporter von ARD für die Sendung „Operieren und kassieren – ein Klinik-Daten-Krimi“ gemacht haben. Das hört sich zuerst natürlich irreführend an, macht aber auf den zweiten Blick Sinn. Denn eigentlich geht es nach diesen Fakten nicht um das Wohl des Patienten, sondern hauptsächlich um den Profit, den die Kliniken und die niedergelassenen Ärzte machen können. Häufig gibt es eigentlich keine ausgewiesene medizinische Indikation für die Operationen. Es geht um Gewinn! Entdeckt wurde diese gewissenlose Vorgehensweise der Kliniken und niedergelassenen Ärzte übrigens durch ein neues System, dass das Heidelberger Institut für theoretische Medizin entwickelt hat. Es ist ein operativer Explorer, den Forscher, Wissenschaftler und Journalisten zusammen erarbeitet haben und das 130 Millionen Krankenhausaufenthalte in den letzten sieben Jahren in Deutschland aufgenommen hat. Alle zusammen genommen ergeben einen Kostenaufwand von 3,5 Milliarden Euro.
Das Ergebnis war erstaunlich. Eingegeben wurden Daten, welche Operationen wo durchgeführt wurden. Dabei zeigte sich, dass in manchen Orten, zum Beispiel Fulda in Osthessen, ungewöhnlich viele Operationen für einen bestimmten Eingriff durchgeführt wurden. Nun leiden die Menschen in Hessen nicht mehr als andere Bundesbürger unter Rückenbeschwerden. Und Schwangeren in Cloppenburg dürften eigentlich bei der Geburt ihres Babys nicht häufiger als im Rest Deutschlands einen Kaiserschnitt benötigen. Und trotzdem zeigen die Zahlen des Heidelberger Instituts genau das auf. Und Zahlen lügen nicht. Die Erklärungen für diese seltsamen Häufungen bestimmter operativer Eingriffe an bestimmten Orten und in bestimmten Kliniken sind einfach zu erklären – wenn man die Hintergründe erst einmal kennt.
Gewinnbringende Operationen durch Konkurrenzkampf der Kliniken
In Deutschland gibt es einen Bettenbedarfsplan, der ausschlaggebend ist dafür, wie viele Kliniken beziehungsweise Belegbetten es in einer Region geben muss. Dieser Bettenbedarfsplan wird im
zuständigen Landesministerium entschieden. Ein Beispiel: In Osthessen gab es bis 2010 neun Kliniken für die Region rund um Fulda. Dann hat sich eine private Klinik für den Bettenbedarfsplan beworben und wurde angenommen. Somit galt die private Klinik als bedarfsgerecht und konnte seitdem auch gesetzlich Versicherte aufnehmen und operieren.
Die Folge: Plötzlich stieg die Anzahl der Operationen gewaltig an. In diesem Fall waren es besonders häufig Operationen am Rückgrat, besonders bei Versteifungsoperationen. Grund dafür ist ein Konkurrenzkampf, der zwischen den Kliniken entbrannte. Und Wirbelsäulen-OPs sind sehr lukrativ für die jeweilige Klinik, aber auch für die niedergelassenen Ärzte, die ihren Patienten eine Rückgrat-Operation empfehlen (siehe dazu „Mehr Gewinn für niedergelassene Ärzte“). Um die Betten im Krankenhaus zu belegen und gewinnbringend zu arbeiten, entstand eine wahre Kaskade von Rückgrats-Operationen.
Mehr Gewinn für niedergelassene Ärzte
Geht ein Patient zu seinem niedergelassenen Arzt, erhofft er sich vor allem Linderung seines Leidens. Ist der niedergelassene Arzt gleichzeitig Neurochirurg, kann das schnell im Operationssaal statt bei einem Physiotherapeuten oder mit einer medikamentösen Behandlung enden. Gesundheitssystemforscher Prof. Reinhard Behr von der Technischen Universität Berlin erklärt das in dem ARD-Beitrag folgendermaßen: „Die neurochirurgischen Fachärzte werden nicht nur die konservative Behandlung vorschlagen. Es sind doch Chirurgen, sie werden operativ tätig sein.“ Logisch. Denn eine konservative Behandlung bringt dem Arzt und der Klinik wesentlich weniger Profit ein als eine Operation. Für den niedergelassenen Arzt und die Klinik! Im Fall eines operativen Eingriffs an der Wirbelsäule beträgt das exakt 2709,89 Euro pro Operation.
Klinik und Arzt gewinnen durch den Kaiserschnitt
Das Ergebnis der Auswertung des Heidelberger Instituts hat gezeigt, dass in den Kliniken rund um Cloppenburg wesentlich mehr Kaiserschnitte durchgeführt werden als im Rest von Deutschland. In diesem Fall betrifft es beinahe jede zweite Frau. Sind die Babys in Norddeutschland viel größer als sonst in Deutschland? Sind mehr Komplikationen als durchschnittlich zu erwarten? Nein, lautet die klare Antwort von Hebamme Silke von Dreele in dem ARD-Beitrag „Operieren und kassieren – ein Klinik-Daten-Krimi“. Aber gerade in einem Klinikbetrieb sollte alles schnell und unkompliziert ablaufen. Das Risiko, das bei einer Geburt etwas schief läuft, ist bei einem Kaiserschnitt kleiner, das Haftungsrisiko des Arztes und der Klinik ist geringer. Gleichzeitig kann das Problem der überfüllten Kreißsäle so verringert werden. Klinik und Arzt werden so entlastet, die Profitmarge steigt. Denn jede Operation bringt Geld.
Die Folge: Je mehr Kaiserschnitte durchgeführt werden, umso weniger Erfahrung hat der Arzt und das Personal mit einer natürlichen Geburt. Das wiederum führt dazu, dass es immer mehr Geburten durch einen Kaiserschnitt gibt. Gleichzeitig steigt der Gewinn für die entsprechende Klinik.
Der vom Arzt genötigte Patient
Kein Patient wünscht sich eine Operation. Trotzdem zeigt die Studie des Heidelberger Instituts, dass es immer mehr Operationen gibt. Dr. Isabella Erb-Hermann von der AOK Hessen erklärt dazu: „Wir haben die Hypothese, dass nicht alle Operationen nötig sind! Die Rücken-Operationen sind hier 40 Prozent häufiger als im Bundesdurchschnitt.“ Und Dr. Uwe Oppel, Orthopäde und Gutachter stellt zu seinen Untersuchungen für anzweifelbare Operationen fest: „Bei keinem der Operationen ist eine medizinische Indikation sichtbar!“ Was also veranlasst die Patienten dazu, sich freiwillig einer unnötigen Operation zu unterziehen? Oftmals haben sie keine Chance. Sie werden sozusagen dazu genötigt. Von ihrem Arzt. Der Arzt schüchtert mit Aussagen wie „Eine Physiotherapie ist aussichtslos!“ oder „Sie bekommen keine weitere Krankschreibung mehr.“ den Patienten ein, zwingt ihn geradezu zu einer Operation. Und gleichzeitig erhöht der Arzt mit der unnötigen Operation seinen Praxisgewinn und den Gewinn der Klinik.
Der Kooperationsvertrag zwischen Klinik und Arzt
Wird ein Patient vom niedergelassenen Arzt zu einer Operation überredet, hat der niedergelassene Arzt oftmals einen finanziellen Vorteil. Und der funktioniert folgendermaßen: Der niedergelassene Arzt hat einen Konsiliararztvertrag mit der Klinik. Dieser Kooperationsvertrag regelt die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Klinik. Der Arzt bekommt für bestimmte Operationen einen bestimmten Festpreis, wird in der ARD-Dokumentation „Operieren und kassieren – ein Klinik-Daten-Krimi“ erklärt. Überweist er mehr Patienten mit anderen Operations-Möglichkeiten an die Klinik, bekommt der Arzt 18 Prozent von den Einnahmen, den die Klinik für den überwiesenen Patienten und seine Operation bekommt. In dem Fall, der von den ARD-Reportern aufgedeckt wurde geht es um zwei Orthopäden, die laut Konsiliararztvertrag zusätzlich zu ihren normalen Praxiseinnahmen jährlich so über die Klinik 500.000 Euro verdienen sollten. Auf Kosten der Krankenkasse und des Patienten versteht sich.
Trickreiche Mehrfachoperationen
Doch es geht noch unverschämter. Nämlich dann, wenn dem Patienten nicht eine, sondern gleich mehrere Operationen zugemutet werden. Gesundheitssystemforscher Prof. Reinhard Behr dazu: „Es ist immer wieder zu sehen, dass der Patient bei einer Rückenoperation zuerst an einem Segment operiert wird, später dann am zweiten Segment. Das kann man eigentlich zusammen machen.“ Jetzt die Kostenaufstellung. Eine große Operation würde 6.036,- Euro einbringen. Eine kleine Operation 4.723,- Euro. Wenn man jetzt also zwei kleine Operationen macht, haben die Klinik und der überweisende Arzt einen Zusatzgewinn von 3.410,- Euro.
Kontrolle von Klinik und Arzt beinahe unmöglich
Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die die Krankenkassen Milliarden kostet, den Patienten die Gesundheit ruinieren kann und die Kliniken und niedergelassenen Ärzte reich macht. Der Verlierer ist auf jeden Fall der Patient. Das sehen die deutschen Gesetzgeber und die Krankenkassen ebenso. Doch leider gibt es kaum Möglichkeiten, diesen Profitwahnsinn der Ärzte und Kliniken zu stoppen. „Es gibt keine Form einer wirklichen Kontrolle“, erklärt ein Arzt, der anonym bleiben will, in dem ARD-Beitrag. Die Kontrollen der Krankenkassen sind sehr eingeschränkt. Einmal aus Kostengründen. Andererseits da sich die Prüfung immer nur nach Aktenlage richtet und der Patient weder untersucht, noch kontaktiert werden darf. Und obwohl das Vorgehen von Klinik und Arzt illegal ist, arbeiten Arzt und Klinik auch weiterhin Hand in Hand und häufen ihren Gewinn mit unnötigen oder sogar gefährlichen Operationen gnadenlos auf Kosten des Patienten an.
Redaktion: Patricia Hansen, Journalistin aus München
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Wiedergabe – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers.
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